User Experience für Bibliotheken: die besten Werkzeuge und Methoden für Einsteiger

von Nicole Clasen

User Experience (UX) bedeutet in etwa Nutzererfahrung und bietet Bibliotheken die Möglichkeit, die Bedürfnisse ihrer Nutzerinnen und Nutzer durch praxisorientierte Erhebungen ganz neu kennenzulernen und die eigenen Angebote nutzerorientiert (weiter)zu entwickeln. Mittels innovativer Methoden wird die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer eingenommen, ihre Wünsche und Anforderungen erforscht und die eigene Einrichtung mit anderen Augen betrachtet. UX bietet Bibliotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeitern mehrere Optionen, dies methodisch anzugehen. Diese stellt ZBW-Mitarbeiterin und UX-Expertin Nicole Clasen vor.

User Experience kommt ursprünglich aus der Softwareentwicklung und betrachtet alle Effekte, die ein Service oder eine Bedienoberfläche vor, während und nach dem Gebrauch auf die Nutzenden hat. Bei der User Experience eines Produkts oder Services betrachtet man also den ganzheitlichen Nutzungsprozess. Das Produkt soll unkompliziert zu benutzen (useable), nützlich für die Person sein (useful) und im besten Fall auch Spaß machen und erneut benutzt werden wollen (desirable).

User Experience in Bibliotheken: Anwendungsfelder und Vorteile

Viele UX-Methoden sind vielseitig einsetzbar. Neben der Betrachtung von Discovery-Systemen, Bibliothekskatalogen und Websites bieten sie sich ebenso für eine detaillierte Analyse von Information und Kommunikation in der Bibliothek und deren Raum- und Gebäudegestaltung an.

Vorteile der UX-Methoden sind, dass Bibliotheken dabei bewusst zusammen mit ihren Nutzenden deren Perspektive betrachten und ihren Schwerpunkt auf das tatsächliche Tun der Nutzerinnen und Nutzer richten. Zudem eignen sich die Methoden als unkomplizierter und günstiger Einstieg in Nutzerforschung und Ethnographie. Ethnographie umfasst das empirische Zusammenfassen und Deuten der Eindrücke während einer teilnehmenden Beobachtung. Bibliotheken haben durch UX die Möglichkeit die (un-)bewussten Wünsche ihrer Nutzerinnen und Nutzer zu identifizieren und in ihren Services umzusetzen. Dies führt zu besseren, im Idealfall auch intuitiver nutzbaren Services und Produkten. Bibliotheken sparen dadurch Entwicklungszeit, erhalten weniger Supportfragen und können ihre Personalkapazitäten besser zwischen den anderen Angeboten und Aufgaben aufteilen.

Die zwei großen Felder in der User-Experience-Forschung

UX-Methoden kann man laut Schmidt, Etches (Schmidt, Etches (2014). Useful, Useable, Desirable) in zwei Themenfelder unterscheiden: die attitudinalen Forschungsmethoden (attitudinal research methods) und die Methoden der Verhaltensforschung (behavioural research methods).

  • Attitudinale Forschungsmethoden: Bei den attitudinalen Forschungsmethoden handelt es sich um Methoden, mit denen man herausfinden kann, was Nutzerinnen und Nutzer denken und sagen. „Attitude“ kommt dabei aus dem Englischen und heißt so viel wie Einstellung, Haltung. Zu den gängigen attitudinalen Methoden zählen Interviews, Cognitive Mapping, Love & Breakup letters sowie Graffiti Walls.
  • UX-Methoden aus der Verhaltensforschung: Behavioural Research Methods setzen ihren Schwerpunkt auf Tätigkeiten und Verhaltensweisen, die die Nutzerinnen und Nutzer wirklich ausführen. Das angegebene, gefühlte Verhalten und das tatsächliche Verhalten können sich in der Praxis durchaus voneinander unterscheiden. Übliche Methoden sind hier die Beobachtung, Behavioural Mapping, Touchstone Tours und Usability Testing.

UX-Methoden für Bibliotheken

Eine Auswahl der Methoden, die sich für Bibliotheken besonders zum Einstieg in die User Experience eignen, möchte ich nun vorstellen.

Behavioural Mapping: Laufwege studieren

Das Behavioural Mapping (PDF) ist eine Erweiterung der reinen Beobachtung. Es konzentriert sich auf die Laufwege der Nutzerinnen und Nutzer und eignet sich gut zum Einstieg in die UX-Methoden. Sie benötigen lediglich einen Grundriss oder selbst skizzierten Plan des Raums oder der Bibliotheksetage, die Sie untersuchen möchten, sowie Stifte. Dann setzen Sie sich für eine bestimmte Zeit in diesen Raum und beobachten die Nutzerinnen und Nutzer.

Wohin gehen sie? Welchen Weg nehmen sie? Welche Angebote werden dabei sprichwörtlich links liegen gelassen? Pro Person dokumentieren Sie den Laufweg und die Stationen auf dem Plan. Idealerweise wiederholen Sie diese Stichprobe zu verschiedenen Uhrzeiten an mehreren Tagen. So können Sie sich ein gutes Abbild der Gewohnheiten schaffen.

 

Love & Breakup letters: Lieber Kaffeeautomat…

Bei der Methode „Love & Breakup letters“ (PDF) (etwa: Liebes- und Trennungsbriefe) bitten Sie Ihre Nutzerinnen und Nutzer einen Brief direkt an ein Produkt oder einen Service zu schreiben. Warum lieben und nutzen sie dieses Produkt? Warum freuen sie sich jede Woche oder täglich darauf? Oder beim Trennungsbrief: Was stört sie an diesem Produkt? Warum ist das Produkt so schlecht oder sind sie so genervt davon, dass sie am liebsten überhaupt nicht mehr in die Bibliothek kommen möchten? Es wäre ja schade, wenn beispielsweise der Kaffee aus dem Automaten so geschmacksarm ist, dass niemand die Loungeecke benutzen möchte. Diese Methode kann man in Gruppen- oder Einzelarbeit durchführen und zum Beispiel mit den Graffiti Walls verbinden.

 

Graffiti Walls: übergroße Pinnwand

Mit der Graffiti Wall geben Sie Ihren Nutzerinnen und Nutzern einen unkomplizierten Freiraum, um Ideen oder Wünsche zu äußern. Sie ist eine übergroße Pinnwand, die allen zur Verfügung steht. Entweder mit allgemeinen Themen „Was fehlt in dieser Bibliothek?“, „Was ist Ihr Lieblingsplatz?“ oder mit wechselnden Fragen, wie dem Thema des Monats. Die Graffiti Wall kann mit großem Packpapier an einer Wand, an einer Metaplanwand oder Ähnlichem aufgebaut werden. Diese stellen Sie an einen belebten Ort in Ihrer Bibliothek, und schon wird sie sich mit inspirierenden Ideen füllen. Diese können auch auf den Social-Media-Kanälen nachgenutzt oder diskutiert werden.

 

Cognitive Mapping: Nutzerforschung für Fortgeschrittene

Das Cognitive Mapping (PDF) ist eine anspruchsvollere Methode, besonders in Bezug auf Ihre Überredungskunst. Bei dieser Methode dürfen die Nutzerinnen und Nutzer zeichnen! Und bei dem Begriff „Zeichnen“ wird die Anzahl der Freiwilligen plötzlich überschaubar. Die Nutzerinnen und Nutzer zeichnen 6 Minuten lang eine grobe Skizze zu einer bestimmten Fragestellung, beispielsweise „Wie sieht Ihr idealer Lernort aus?“.

Zeichnen spricht dabei andere Gehirnareale an als das Sprechen, daher unterscheiden sich die Ergebnisse dieser Methode inhaltlich oft. Die 6 Minuten Zeichnen teilen sich in je 2 Minuten mit 3 unterschiedlichen Farben auf. Welche Farben gewählt werden, ist unerheblich, aber die spannendsten Details entstehen oft erst bei der letzten Farbe.

 

User Journey Mapping: visualisierte Nutzererfahrung

Mit Hilfe dieser Methode erarbeiten Sie mit Ihren Nutzerinnen und Nutzern einen kompletten Prozessablauf wie eine Recherche. Die Nutzerinnen und Nutzer planen den Prozess und beschreiben seinen Ablauf. Typische Fragestellungen sind: Wie erfüllen sie diese Aufgabe? Wie fühlen sie sich dabei? Was denken sie währenddessen?

Am Ende des User Journey Mappings verfügen Sie über eine visualisierte Darstellung der ganzen Nutzererfahrung in Zusammenhang mit der gestellten Aufgabe. Diese Methode können Sie auch selbst durchführen und sich an vorher definierten Personas (Nutzermodellen) orientieren. Einen größeren Mehrwert bietet aber die Umsetzung mit echten Nutzerinnen und Nutzern.

 

Touchstone Tours: den Nutzerinnen und Nutzern auf der Spur

Die Touchstone Tours (PDF) (touchstone bedeutet Prüfstein) unterstützen Sie dabei, Ihre Bibliothek ganz bewusst mit den Augen Ihrer Nutzerinnen und Nutzer zu sehen. Dies wird dadurch ermöglicht, dass Ihre Nutzerinnen und Nutzer Sie durch Ihre Bibliothek führen und Ihnen zeigen, wie sie diese wahrnehmen und gebrauchen. Wie sieht ihr Tagesablauf aus? Was nutzen sie in der Bibliothek und in welcher Reihenfolge? Was wird überhaupt nicht genutzt oder beachtet? Spannend sind auch die verwendeten Begriffe der Nutzerinnen und Nutzer für Service x und y. Diese Methode ermöglicht einen intensiven Austausch über die Services der Bibliothek. Sie ist auch mit einer kleinen Auswahl an kurzen Interviewfragen kombinierbar.

 

Zum Mitmachen motivieren: aber wie?

Sie möchten UX ausprobieren und fragen sich nun, wie Sie Ihre Nutzerinnen und Nutzer überzeugen können? Rühren Sie die Werbetrommel. Berichten Sie auf Ihren Kanälen über die geplante Aktion und später selbstverständlich über die Ergebnisse und die Umsetzung.

In der Praxis reichen meist eine freundliche Ansprache, eine gute und simple Erklärung der Methode und eine kleine Belohnung wie Weingummis aus, um genügend Teilnehmende für eine Stichprobe zu finden. Ihre Nutzerinnen und Nutzer werden sich freuen, dass Sie an ihren Wünschen und Erfahrungen interessiert sind und mit ihnen zusammen etwas verändern möchten. Sie können auch mit Beobachtungen starten, diese erfordern lediglich eine passive Beteiligung der Nutzenden und erleichtern Ihnen den Start in die Materie.

Fazit zum Einsatz von UX-Methoden in Bibliotheken

Die vorgestellten Werkzeuge und Methoden sind nur einzelne Puzzleteile aus dem großen Baukasten der User-Experience-Forschung. Viele von ihnen sind erweiterbar oder können durch reine Usability-Methoden unterstützt oder durch technische Lösungen professionalisiert werden. Doch der Einstieg in UX ist für Bibliotheken denkbar simpel.

„Einfach ausprobieren“ ist deswegen ein gutes Motto, um kleine, aber wirkungsvolle Ergebnisse zu erreichen. Denn auch kleine Veränderungen signalisieren Nutzerinnen und Nutzern, dass Sie Ihre Bibliothek verbessern möchten und Ihre Nutzerinnen und Nutzer und deren Bedürfnisse eine große Rolle dabei spielen.

Eine Bibliothek kann meist mehr als Nutzerinnen und Nutzer von ihr erwarten. Dabei können UX-Methoden dabei helfen, grundlegende Nutzerbedürfnisse mit Bibliotheks-Services zu harmonisieren. Hilfreich ist auch, genau zu schauen, welche Services nicht verwendet oder angesprochen werden. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit des Ausmistens?

Das könnte Sie auch interessieren:

Über die Autorin:

Nicole Clasen leitet die Abteilung Benutzungsdienste in der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört neben der Informationsvermittlung und den digitalen Benutzungsdiensten auch die Usability Experience. Sie ist auch auf LinkedIn und Twitter zu finden.
Porträt: ZBW©, Fotograf Sven Wied

Diesen Blogpost teilen:

Fehlende deutsche Übersetzung

Fachreferatsarbeit: angekettet oder „unchained“? INCONECSS 2019: Ein Blick in die Zukunft wirtschaftswissenschaftlicher Bibliotheken KI in wissenschaftlichen Bibliotheken, Teil 3: Voraussetzungen und Bedingungen für den erfolgreichen Einsatz

View Comments

Open Science von Anfang an: Wie die UBC Okanagan Library Studierende an gute wissenschaftliche Praxis heranführt
Nächster Blogpost